Ich hatte 1995 das große Glück, zeitgleich mit Dr. Jeff Sutherland bei der Software-Firma EASEL zu arbeiten. Der hatte diese Herangehensweise entwickelt und ich konnte sie von ihm aus erster Hand lernen. Scrum hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. So viel dazu – und damit zur deutschen Wirtschaft. Was alles im Detail schief läuft, kann ich nicht sagen. Ich bin ja Scrum-Trainer und kein Wirtschaftsweiser. Aber man kann recht deutlich sehen, dass wir in unseren Strukturen und unserem Denken teilweise sehr festgefahren sind. Wir reden viel über Agilität, sind es aber nicht. Es wird entwickelt und perfektioniert, bis es zu spät ist. Daraus auszubrechen wäre definitiv hilfreich.
Und da kommt Scrum ins Spiel?
Zu sagen „Wir machen jetzt alle Scrum und alles wird super“ wäre zu einfach und wir sehen ja, dass das nicht funktioniert.
Für einen der Scrum fast schon lebt, sind das ziemlich harte Worte für die eigene Profession…
Sind wir doch mal ehrlich: Scrum ist oft nur eine Phrase, die nicht mit Inhalten gefüllt ist – geschweige denn, dass irgendein Vorgehen dahintersteckt. Da wird dann das Meeting in der Früh zum Daily Scrum umbenannt und die Zeit, bis die projektverantwortliche Person ein erstes Ergebnis sehen will, zum Sprint. Da steckt dann auch immer gleich die Erwartung drin, dass es dadurch auch schneller geht. Ansonsten ändert sich nichts. Das ist Pseudo-Scrum mit Schein-Agilität. Das produziert nur Frust, aber ganz bestimmt keine besseren Ergebnisse.
Mal einfach gefragt: Wie ginge es denn besser?
Mal vorab: Scrum ist kein Allheilmittel, nicht allmächtig und kein Selbstläufer. Das vergessen viele oder ignorieren es einfach. Scrum ist eine spezifische Herangehensweise, um sich einen eigenen Prozess zu bauen, der es erlaubt, effektiv mit komplexen Problemen umzugehen. Scrum adressiert drei Fragestellungen: Erstens: Wie finden wir heraus, was unsere Kund:innen und der Markt brauchen? Zweitens: Wie kommen wir am schnellsten zu einer sinnvollen Lösung? Und drittens: Wie können wir uns kontinuierlich verbessern, ohne dass es Stress erzeugt? Entweder man möchte Antworten auf diese Fragen – oder nicht. Das ist für mich ausschlaggebend, ob man Scrum ernsthaft verfolgt – oder nur so tut. Führungskräfte, die die Unternehmenskultur maßgebend prägen, sollten sich mit damit auseinandersetzen und nicht dem Missverständnis erliegen: „Endlich eine neue Methode, die alles besser macht. Diese wird jetzt von meinen Mitarbeitenden implementiert. Für mich als Führungskraft ändert sich aber nichts“!
Beim Stichwort „Unternehmenskultur“ gehen die Einschätzungen ja schon in einem Unternehmen oft diametral auseinander. Worauf kommt es dabei an?
Man darf Fehler nicht als Fehler sehen, die es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Sondern als Chance, etwas zu lernen. Ein Unternehmen, eine Abteilung ist ein lernender Organismus – und da gehört es auch dazu, mal in die falsche Richtung zu laufen, Ziele nicht zu erreichen oder Ziele zu ändern. Das ist das Wesen von Scrum: Sich ein Ziel setzen. Probieren, dieses Ziel in einem bestimmten Rahmen zu erreichen und sich dann zusammenzusetzen und offen und ehrlich besprechen, warum es geklappt hat oder warum nicht. Hier geht es nicht darum, Schuld für Versagen zu verteilen und Ruhm für Erfolge zu reklamieren, sondern um Selbstreflektion. Nur so kann man als Team zu lernen und das Ganze beim nächsten Mal besser machen. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für Scrum und der Punkt, an dem es oft scheitert. Das Gute ist aber: Das kann man lernen. Das machen wir zum Beispiel in unseren Trainings oder an unserem Scrum Day im Juni in Stuttgart.
Herr Berchez, vielen Dank für dieses Gespräch.
Mehr zu Jean Pierre Berchez, wie Sie Scrum lernen und nutzen können – und dem Scrum Day erfahren Sie bei SCRUM-events.