Das zugrundeliegende Geschäftsmodell unter Missbrauch der Dienstleistungsfreiheit ist ganz einfach gestrickt: Man flagge ursprünglich in Westeuropa stationierte Fahrzeuge auf Standorte in den MOE-Beitrittsländern um, beschäftige aus diesen Ländern Personal zu niedrigen Lohn- und Sozialkosten und betreibe das Geschäft wie bisher. Die bedienten Brennpunkte des Verkehrsgeschehens in Häfen und Logistikstandorten ändern sich nicht, wohl aber die Nummernschilder und das eingesetzte Fahrpersonal. Den eigentlichen Preis für Niedriggebote im Transport zahlt das Fahrpersonal, das wochen- und teils monatelang in Fahrerhäusern eine Art Nomadendasein führt. Nur ab und zu geht es per Fernbus oder in extremen Fällen sogar per Billigflug für wenige Tage in die Heimat zurück. So entsteht eine Art Schichtbetrieb für das in Deutschland und Westeuropa eingesetzte Personal aus Ländern mit niedrigen Lohn- und Sozialkostenstandards.
Wie erfolgreich dieses Geschäftsmodell in der Bundesrepublik Deutschland ist, beweist die Statistik mautpflichtiger Verkehre. Der Verkehrsanteil von Fahrzeugen aus Pseudostandorten in den EU-Beitrittsländern explodiert geradezu. Deutsche Transportunternehmen und auch Transportlogistikunternehmen aus westeuropäischen Ländern werden im Gegenzug aus ihren angestammten Märkten verdrängt. Über 40 Prozent aller mautpflichtigen Verkehre in Deutschland sind mittlerweile in den Händen gebietsfremder Transportunternehmen. Drei Viertel dieser Verkehre entfallen auf Fahrzeuge mit Standorten aus den EU-Beitrittsländern.
Um halbwegs faire Wettbewerbsverhältnisse herzustellen, ist es unabdingbar und naheliegend, die von Gebietsfremden in Deutschland übernommenen grenzüberschreitenden Transporte und auch innerdeutschen Verkehre zumindest den Mindestlohnverpflichtungen zu unterwerfen.
Im Vertragsverletzungsverfahren signalisiert die EU-Kommission allerdings auch Kompromissbereitschaft. So sieht die Kommission vor allem in der Einbeziehung des Transitverkehrs und im bürokratischen Meldeverfahren Steine des Anstoßes, die zum Vertragsverletzungsverfahren geführt haben. Diese beiden Störfaktoren lassen sich nach Auffassung des BGL mit modernen Kommunikationstechniken und gutem Willen aller Beteiligten meistern. Sollten allerdings grenzüberschreitende Verkehre vom Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes in Deutschland freigestellt werden, wird ein weites Tor für noch mehr Sozialdumping in der EU geöffnet. Zudem steht zu erwarten, dass nicht nur deutsche Fahrerarbeitsplätze unter Druck kommen, sondern sich auch die Dispositionen von Fuhrparkkapazitäten sowie ein Großteil der Wertschöpfung und Steuereinnahmen der Transporte ins benachbarte EU-Ausland verlagern, nur um der "Mindestlohnfalle" in Deutschland zu entgehen.
Diesen "Super-Gau" für Transportlogistikunternehmen mit Standort Deutschland gilt es zu verhindern. Die Bundesregierung hat gute Argumente für die Anwendung des Mindestlohngesetzes auch für gebietsfremde Transportdienstleistungsunternehmen entwickelt. Notfalls muss der EuGH darüber entscheiden, wie der Ausgleich von Schutzinteressen der Arbeitnehmer, der Unternehmen, des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs und möglicherweise noch weiterer gesellschaftlicher Ansprüche fair erfolgen kann. "Das Schlimmste, was im derzeitigen Umfeld des Vertragsverletzungsverfahrens geschehen könnte, ist ein 'Kuhhandel' zwischen der Bundesregierung mit der EU-Bürokratie, der alles so belässt, wie es seit langem ist", meint das Geschäftsführende Präsidialmitglied des BGL, Prof. Dr. Karlheinz Schmidt.