Kommentar von Seyfettin Günder zu den aktuellen Apotheken-Nachrichten über Koalitionskrise, Brandmauer zur AfD und die Folgen für Apotheken in Deutschland
Koalitionsarithmetik klang lange nach einer technischen Spielerei, die irgendwo zwischen Parteizentralen, Fraktionssitzungen und Koalitionsverträgen stattfindet. Inzwischen rückt sie näher an den Alltag von Betrieben heran, weil sich die Frage stellt, ob überhaupt noch stabile Mehrheiten entstehen, die ein Versorgungsversprechen länger als eine Legislatur tragen. Wenn eine in Teilen als rechtsextrem eingestufte Partei Umfragewerte erreicht, die klassische Lagerbildung sprengen, wird die Brandmauer zur AfD nicht nur zum Bekenntnis, sondern zum Stressfaktor. Jeder zusätzliche Prozentpunkt verschiebt die Statik im Bundestag und in den Ländern – und damit die Frage, ob jemand den Mut und die Macht hat, eine echte Apothekenreform anzupacken, statt nur an Stellschrauben zu drehen.
Für Apotheken wirkt die Brandmauer-Debatte auf den ersten Blick weit entfernt: Hier die große Politik, dort der tägliche Kampf mit Personalengpässen, Retaxrisiken und fehlenden Honorarbausteinen. Tatsächlich entscheidet sich aber genau an dieser Linie, wie handlungsfähig Regierungen bleiben. Bröckelt die Brandmauer, drohen Bündnisse, in denen Versorgung unter ideologischen Vorzeichen verhandelt wird – mit einem scharfen Blick auf Kosten und einem blinden Fleck für Strukturen. Hält sie, besteht die Gefahr, dass Koalitionen in manchen Konstellationen nur noch mit Mühe zustande kommen und ständig unter der Drohung des nächsten Bruchs stehen. In beiden Fällen ist klar: Wer bei Gesundheits- und Apothekenpolitik auf verlässliche Fünf- oder Zehnjahresperspektiven hofft, braucht viel Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz.
Gerade Apotheken haben in den vergangenen Jahren gelernt, wie sich politische Unsicherheit in konkrete Belastung übersetzt. Eine Reform nach der anderen wurde angekündigt, überarbeitet, aufgespalten oder verschoben. Honoraranpassungen blieben hinter der Kostenentwicklung zurück, digitale Projekte kamen im Zickzack voran, während parallel Lieferengpässe, Pandemie-Folgen und neue Aufgaben die Arbeitslast erhöhten. Jede neue Regierung versprach, es besser zu machen als die Vorgängerin, und verwies auf Haushaltslage, Koalitionspartner oder externe Krisen, wenn es brenzlig wurde. Wenn nun zusätzlich die Frage im Raum steht, ob künftige Bündnisse überhaupt noch jenseits von Notlösungen gebildet werden können, wird deutlich, wie fragil die Hoffnung auf spürbare Verbesserungen ist. Unter diesen Bedingungen wird die Ankündigung, Apotheken wirtschaftlich zu stabilisieren, schnell zur politischen Münze, mit der zwar bezahlt wird, ohne dass der Gegenwert je ankommt.
Die AfD profitiert in diesem Klima von Enttäuschung und Wut – auch in Teilen der Heilberufe. Wer jahrelang erlebt, wie Versprechen in der Gesundheitspolitik zerfasern, ist anfällig für die Erzählung, man könne „einfach aufräumen“, Bürokratie abbauen, Kassen disziplinieren und Versorgung „zurückholen“. Doch hinter der Parole fehlt eine konsistente Antwort darauf, wie ein solidarisch finanziertes System mit alternder Gesellschaft, teuren Innovationen und knappen Fachkräften funktionieren soll. Für Apotheken ist das eine gefährliche Mischung: Die Unzufriedenheit ist real, die strukturellen Zwänge auch, aber die einfachen Antworten führen eher in den Rückbau als in die Stabilisierung. Wer heute Brandmauern in Frage stellt, ohne ein tragfähiges Konzept für Gesundheitsfinanzierung und Versorgungsstrukturen vorzulegen, spielt mit Erwartungen, die sich später schwer einlösen lassen.
Die andere Seite der Medaille ist eine politische Mitte, die lange davon ausgegangen ist, Koalitionen würden sich schon irgendwie finden und tragfähig bleiben. Doch dort, wo Parteien sich gegenseitig blockieren, interne Flügelkämpfe ausfechten und jede Entscheidung vom nächsten Stimmungsbild abhängig machen, entsteht ebenfalls Unsicherheit. Apotheken erleben das, wenn Honorarthemen immer wieder auf „später“ geschoben werden, wenn Notdienststrukturen zwar als wichtig anerkannt, aber nicht nachhaltig abgesichert werden, und wenn Reformprojekte in der Aufzählung der Vorhaben gut klingen, im Gesetzblatt dann aber kaum Wiedererkennungswert haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem solchen Umfeld eine große, saubere Reform der Apothekenvergütung gelingt, ist gering. Eher drohen punktuelle Anpassungen, die kurzfristig Schlagzeilen liefern, aber langfristig keine Planungssicherheit schaffen.
Die unangenehme Wahrheit ist, dass ein Ende klassischer Koalitionslogik Apotheken nicht automatisch eine neue Chance verschafft, sondern das Risiko verstärkt, endgültig im Rauschen unterzugehen. Wenn Politik auf Dauerwahlkampfmodus umschaltet, werden die Themen nach medialer Verwertbarkeit sortiert, nicht nach struktureller Bedeutung. Versorgungssicherheit im ländlichen Raum, die Frage nach fairer Honorierung für beratungsintensive Leistungen oder die Stabilisierung von Notdienstnetzen gehören nicht zu den Themen, mit denen Wahlen gewonnen werden. Gerade deshalb sind sie auf stabile Mehrheiten angewiesen, die länger halten als eine Umfragewelle. Ohne solchen Rückhalt wird die Zukunft der Apothekenversorgung zu einem Nebenprodukt von Konflikten, die mit ihr wenig zu tun haben – von Migrationsdebatten über Steuerstreit bis hin zu parteiinternen Machtkämpfen.
Der entscheidende Maßstab kann deshalb nur lauten, ob es der politischen Landschaft gelingt, einen Grundkonsens über die Bedeutung verlässlicher Versorgung aufrechtzuerhalten – unabhängig davon, wie Koalitionen im Detail aussehen. Eine Brandmauer, die nur als taktisches Instrument verstanden wird, taugt wenig. Entscheidend ist, ob innerhalb des demokratischen Spektrums die Bereitschaft besteht, Gesundheits- und Versorgungsthemen nicht zur kurzfristigen Verhandlungsmasse zu machen. Apotheken können dazu beitragen, indem sie konsequent sichtbar machen, was auf dem Spiel steht: nicht nur der Fortbestand einzelner Betriebe, sondern ein Teil der Infrastruktur, der in Krisen trägt, wenn andere Systeme ins Wanken geraten. Wer das ignoriert, riskiert, dass am Ende zwar Koalitionen neu sortiert sind, aber die Strukturen, die Menschen im Alltag brauchen, leise verschwinden.
Die politische Landschaft wirkt derzeit, als würde jemand an zu vielen Fäden gleichzeitig ziehen: Umfragen springen, Koalitionen wanken, Brandmauern werden beschworen und zugleich in Frage gestellt. Auf den Bildschirmen entsteht der Eindruck eines permanenten Ausnahmezustands, der sich vor allem um Machtoptionen dreht. Im Alltag von Versorgungseinrichtungen sieht die Szene nüchterner, aber nicht weniger angespannt aus: Teams arbeiten am Limit, Betriebe ringen um wirtschaftliches Gleichgewicht, und Reformzusagen stehen auf einem Fundament, das immer wieder nachgibt. Die Verbindung zwischen beiden Ebenen ist enger, als es auf den ersten Blick erscheint, denn die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zeigt sich nicht in Slogans, sondern in der Frage, ob verlässliche Strukturen geschützt werden, auch wenn es politisch unbequem ist.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. Wenn Koalitionen fragiler werden und eine starke Protestkraft den Ton verschiebt, verändert sich still der Horizont dessen, was noch an Zuverlässigkeit erwartet werden kann. Wirkung entfaltet sich dort, wo Akteure in Parlamenten und Regierungen sich nicht von der Suche nach schnellen Schlagzeilen treiben lassen, sondern Versorgung als Kernaufgabe begreifen, die nicht jeden Stimmungswechsel mitmachen darf. Sie zeigt sich, wenn bei Entscheidungen zur Apothekenvergütung, zur Stabilisierung von Notdienstnetzen und zur Steuerung von Engpässen nicht nur die kurzfristige Haushaltslage zählt, sondern die Frage, welche Infrastruktur ein Land in stürmischen Zeiten tragen soll. Und sie reicht bis zu der Einsicht, dass eine Brandmauer allein nicht genügt, solange gleichzeitig zugelassen wird, dass Strukturen erodieren, die Menschen im Krankheitsfall Sicherheit geben. Wo dieses Bewusstsein wächst, kann politische Unruhe weitergehen, ohne dass die alltägliche Versorgung ihren Boden verliert.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.
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