Stand: Freitag, 12. Dezember 2025, um 12:59 Uhr
Apotheken-News: Kommentar von heute
Kommentar von Seyfettin Günder zu den aktuellen Apotheken-Nachrichten über die Abda-Blackout-Aktion, die Frage politischer Wirksamkeit und die Risiken einer eskalierenden Unterversorgung.
Wenn Kerzenlicht die stärkste Eskalationsstufe ist – was bleibt dann noch, wenn Versorgung tatsächlich ausfällt? In dieser Frage steckt mehr Realität als in vielen Positionspapieren, weil sie den Kern trifft, den man in der Branche viel zu lange umkreist: Eskalation ist nicht das Bild, Eskalation ist die Leiter. Wer die höchste Stufe besetzt, bevor der Weg dorthin erkennbar ist, macht sich klein, noch bevor der Gegner reagieren muss. Genau deshalb wirkt die geplante Blackout-Aktion nicht einfach unglücklich, sondern riskant. Sie sendet nicht nur eine Botschaft nach außen, sie legt auch nach innen offen, wie unsicher der Modus geworden ist, in dem Interessenvertretung politische Wirkung erzeugen will.
Die Lage ist bekannt, aber sie ist nicht mehr als „schwierig“ zu beschreiben, ohne die Wirklichkeit zu verharmlosen. Betrieblich geht es um eine Verdichtung von Faktoren, die selten einzeln kommen: Personalmangel, Kostenanstieg, Bürokratie, Retaxrisiken, Lieferstress, Investitionspflichten in Technik und Sicherheit, dazu eine Vergütung, die den Alltag nicht mehr zuverlässig abfedert. Was daraus entsteht, ist keine Stimmung, sondern eine Prozesskrise. Und Prozesskrisen reagieren nicht auf Gesten, sondern auf Steuerung. Wer die Steuerung nicht liefert, wird irgendwann selbst zum Gegenstand der Debatte, statt ihr Motor zu sein. Genau an diesem Punkt steht die Branche gerade, und das ist der eigentliche Skandal der Blackout-Idee: Sie lenkt den Blick auf den Absender, nicht auf die Versorgung.
Symbolik hat ihren Platz, aber Symbolik ist nur dann stark, wenn sie an eine klare Verantwortungsfrage gekoppelt ist. Politik lässt sich nicht durch moralische Dringlichkeit beeindrucken, sondern durch Folgen, die sich nicht wegmoderieren lassen. Das klingt hart, ist aber die einzige Sprache, die in Ressorts, Haushaltsrunden, Kassenlogik und Koalitionsausschüssen konsistent verstanden wird. Wenn eine Aktion nicht erklärt, welche Konsequenz aus Nicht-Entscheidung folgt, wird sie zur Kulisse. Wenn sie zudem schon die Vokabel „Blackout“ trägt, ohne dass die Eskalationsleiter bis zur letzten Stufe plausibel wird, verwandelt sich das vermeintlich drastische Signal in eine Einladung zum Abwinken. Drastik ohne Pfad ist nicht Stärke, sondern Angriffsfläche.
Die Kritik aus der Basis ist deshalb keine Laune, sondern ein Sensor. Sie sagt: Die Betriebe leben in einer anderen Zeitrechnung als ihre Verbände. In der Fläche laufen Monatsläufe, Liquiditätskurven, Personalschichten, Haftungsfragen. In der Kommunikation laufen Bilder, Signale, Aktionen. Diese beiden Taktungen sind auseinandergerissen. Wer das nicht zusammenführt, produziert eine zweite Krise, zusätzlich zur ersten: eine Repräsentanzkrise. Sie ist besonders gefährlich, weil sie den politischen Gegnern das bequemste Argument liefert: Wenn die Branche sich selbst nicht einig ist, kann man abwarten. Abwarten ist im Gesundheitswesen selten neutral, weil Abwarten die Last immer auf die Ränder verschiebt, und die Ränder heißen in diesem Fall: Apotheken vor Ort.
Der entscheidende Fehler liegt dabei nicht in der Idee, Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern in der Verwechslung von Aufmerksamkeit mit Verhandlungsmacht. Aufmerksamkeit ist flüchtig, Verhandlungsmacht entsteht aus Zwang zur Entscheidung. Zwang entsteht nicht aus Empörung, sondern aus einem sauber beschriebenen Risiko, das sich in Kosten, Ausfällen und Verantwortungsfragen niederschlägt. Genau hier hätte eine Eskalationslogik ihren Platz: nicht als Drohgebärde, sondern als nachvollziehbare Kette. Was passiert, wenn Standorte schließen, welche Wege verlängern sich, welche Beratungsleistungen brechen weg, welche Fehlerwahrscheinlichkeiten steigen, welche Folgekosten entstehen, welche Bereiche des Systems werden unbeherrschbar. Solche Sätze sind nicht „PR“, sie sind Risikoökonomie. Und Risikoökonomie ist der Punkt, an dem Symbolik aufhört, Spiel zu sein.
Die Branche hat ein zusätzliches Problem, das jede schwache Aktion sofort verstärkt: die Gewöhnung an Krisen. Wer seit Jahren in Ausnahmezuständen arbeitet, verliert die Toleranz für Zeichenhandlungen, die keine Entlastung versprechen. Es entsteht ein fast mechanischer Widerstand gegen alles, was nach „noch einer Geste“ aussieht. Das ist kein Zynismus, sondern Selbstschutz. Denn jede Energie, die in die Deutung einer Aktion fließt, fehlt im Betrieb für das, was ohnehin jeden Tag drückt. Wenn die Interessenvertretung dann ausgerechnet dort Symbolik wählt, wo die Betriebe Rechenschaft, Pfad und Hebel erwarten, kippt Vertrauen. Nicht, weil man nicht mehr an gemeinsames Handeln glaubt, sondern weil man fürchtet, dass gemeinsames Handeln am falschen Ort stattfindet.
Deshalb ist die zentrale Frage nicht, wie man die Blackout-Aktion „besser erklärt“. Die Frage lautet: Wie kommt die Branche aus dem Modus der Bilder zurück in den Modus der Folgen? Wer Wirkung will, braucht eine Eskalationsleiter, die nicht nach Lautstärke sortiert ist, sondern nach Zwang zur Entscheidung. Das beginnt mit Kriterien, die sich nicht wegwünschen lassen: Versorgungssicherheit, Haftung, Patientensicherheit, Systemkosten, Planbarkeit. Daraus folgt eine Kommunikationsform, die weniger Instagram tauglich ist, aber politisch zwingender: klare Schwellen, klare Verantwortungen, klare Konsequenzen. Das ist keine Drohung, das ist Präzision. Und Präzision ist in einer Zeit, in der jeder Akteur seine Verantwortung gern in Kommissionen und Prozessrunden parkt, die knappste Währung.
Gleichzeitig gehört zur Ehrlichkeit auch, dass eine Eskalationsleiter nicht nur nach außen wirkt. Sie wirkt nach innen, weil sie die Branche zwingt, sich selbst zu sortieren. Was ist die rote Linie, ab der man nicht mehr „durchhält“, sondern offenlegt, was nicht mehr leistbar ist? Wo endet das stille Kompensieren, das so oft als Professionalität missverstanden wird, obwohl es in Wahrheit das System davor schützt, die eigenen Fehlanreize zu spüren? Solange Apotheken unter hoher Last weiter stabilisieren, bleibt Unterfinanzierung unsichtbar. Unsichtbarkeit ist politisch bequem. Eine kluge Eskalationslogik macht Unsichtbares sichtbar, ohne die Versorgung als Geisel zu nehmen. Sie zeigt nicht nur Schmerz, sie zeigt Mechanik.
Genau deshalb ist Kerzenlicht als Endpunkt so gefährlich: Es behauptet Ernst, ohne Mechanik zu liefern. Und es raubt der Branche die Luft nach oben, weil jede nächste Stufe zwangsläufig grober wirken müsste, um überhaupt als „Steigerung“ wahrgenommen zu werden. Wer sich so selbst in die Ecke stellt, verliert Spielraum. Spielraum ist jedoch das, was in Verhandlungen gebraucht wird, besonders in einer Lage, in der es nicht um Prestige geht, sondern um Überleben in der Fläche. Der Satz „Untätigkeit ist keine Option“ wirkt nur dann, wenn Untätigkeit Folgen hat, die als politische Verantwortung zurückfallen. Solange Untätigkeit nur Frust erzeugt, bleibt sie folgenlos.
Der wirksame Nachsatz zur Blackout-Debatte lautet daher nicht „zu klein, zu peinlich, zu spät“, sondern: Das Instrument passt nicht zur Lage, weil es die falsche Art von Ernst sendet. Die Branche braucht keine weitere Symbolik, sie braucht eine Sprache, die Entscheidung erzwingt. Sie braucht eine Eskalationsleiter, die in der Realität der Versorgung verankert ist, nicht im Wunsch nach Aufmerksamkeit. Und sie braucht Verbände, die den Mut haben, diesen Pfad zu führen, statt ihn mit Bildern zu übertünchen. Wenn das gelingt, wird die Frage „Was bleibt noch, wenn Versorgung ausfällt?“ zur Wende, nicht zur Kapitulation. Wenn es nicht gelingt, bleibt nur das, was Politik am wenigsten fürchtet: ein flackerndes Zeichen in einer Landschaft, die längst dunkel wird.
Kerzenlicht als „höchste Stufe“ wirkt nicht zu klein, weil Symbolik grundsätzlich falsch wäre, sondern weil die Lage längst in Kosten-, Haftungs- und Ausfallketten übersetzt wird. Wenn Interessenvertretung Ernst behauptet, aber keinen Pfad der Konsequenzen sichtbar macht, entsteht nach außen Bequemlichkeit und nach innen Frust. Genau diese Lücke macht Protest angreifbar: Er wird als Stimmung gelesen, nicht als Risiko. Und je länger das so bleibt, desto mehr verlagert sich die Systemlast auf die Fläche, wo sie nicht diskutiert, sondern jeden Tag kompensiert werden muss.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. Wer Eskalation mit Bildern verwechselt, verliert Spielraum, bevor Verhandlung überhaupt beginnt. Die entscheidende Frage ist nicht, wie laut ein Zeichen ist, sondern ob es Entscheidung erzwingt, weil Folgenketten sauber benannt sind und Verantwortungen zurückfallen. Wo das unterbleibt, wird Unterversorgung verwaltet, bis sie als Normalität akzeptiert ist. Für Apotheken heißt das: Nicht Symbolik entscheidet über Zukunft, sondern die Fähigkeit, Risiken präzise zu quantifizieren, Schwellen zu markieren und die politische Kostenvermeidung in eine Pflicht zur Stabilisierung zu drehen.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.
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