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Aufstand der Scheinheiligen

Nicht das neue Meldegesetz ist der eigentliche Skandal, sondern die anschließende Empörung der parlamentarischen Opposition. Denn sie hätten das Gesetz, dem nur 17 von 620 Abgeordneten zustimmten, leicht verhindern können.

(PresseBox) (Leipzig, )
Unser Bundestag hat am 28. Juni, abends um 20:50 Uhr, innerhalb von 57 Sekunden eine 2. und 3. Lesung eines Gesetzes durchgepeitscht und das Gesetz über die "Fortentwicklung des Meldewesens" beschlossen. Von über 600 Parlamentariern waren nur 27 zur Bundestagssitzung im Plenarsaal. Fünf Minuten vorher waren es noch 30.

Drei zogen es unmittelbar vor der Abstimmung vor, den Plenarsaal zu verlassen. Mit Aktentasche. Es ist unglaublich: Die gewählten Gesetzgeber machen Feierabend, bevor alle laut Tagesordnung zur Beratung und Entschließung vorgesehenen Gesetzentwürfe diskutiert und beschlossen waren. 10 der 27 Anwesenden stimmten gegen den Gesetzentwurf, 17 stimmten dafür. 17 von 620 Abgeordneten. So werden in Deutschland Gesetze gemacht.

Fußball statt Parlament

Rund 590 weitere Parlamentarier waren nämlich gar nicht da. Die meisten davon waren schon früh bei Beginn der Plenarsitzung nicht da, wie man auf dem Videomitschnitt der Plenarsitzung sehen kann. Sie wollten sich wahrscheinlich beim Public Viewing in ihrem Wahlkreis „unters Volk“ mischen, statt ihrer Arbeit „für das Volk“ in Berlin nachzugehen. Zeitgleich zur abendlichen Abstimmung übertrug das Fernsehen live das Europameisterschaftsspiel Deutschland gegen Italien. Italien besiegte Deutschland zwar 2:1.

Doch das ist immer noch ein ehrenwertes Ergebnis im Verhältnis zum Knockout für die parlamentarische Demokratie zeitgleich im Bundestag. Lange vor der Abstimmung zum Meldegesetz erklärte deshalb Bundestags-Vizepräsident Eduard Oswald (CDU/CSU) unwidersprochen: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf darauf hinweisen, dass ich angesichts der fortschreitenden Zeit und des anstehenden Fußballspiels nicht mehr beabsichtige, irgendwelche Zwischenfragen zuzulassen.“

Die abgehefteten Reden

Wie im Opens external link in new windowProtokoll der Bundestagssitzung nachlesbar ist, haben mehrere Abgeordnete ihre Reden „zu Protokoll“ gegeben. So nennt man Reden, die zwar geschrieben wurden, aber nicht zum reden, sondern zum Abheften. Diese Reden hatten keine Zuhörer. Sie lösten nichts aus. Sie waren Pseudodiskussionen. In den Protokollreden der Abgeordneten Gabriele Fograscher (SPD) und Jan Korte (DIE LINKE) steht zwar ausdrücklich, dass deren Fraktionen den Gesetzentwurf ablehnen. Allerdings erhebt sich da doch die Frage: Warum taten das die Fraktionen nicht?

Es waren ja kaum Abgeordnete von Schwarz-Gelb anwesend. Es wäre also ganz leicht gewesen, den Gesetzentwurf noch am selben Abend zu Fall zu bringen. Es hätten bloß ein paar mehr Abgeordneten der Opposition anwesend sein müssen. Warum waren sie es nicht? Jetzt, anschließend, nachdem das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist, wird in den Medien wüst diskutiert.

Unschuldiges Unwissen

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bezeichnete das Gesetz als "gefährlichen Unsinn". „Ich will nicht, dass meine Heimatstadt meine Adresse an Werbefirmen oder professionelle Datensammler verkaufen kann. Genau das sieht aber das neue Meldegesetz vor, das CDU/CSU und FDP gegen die SPD bereits durch den Bundestag gebracht haben.“ schrieb er am 5. Juli auf Opens external link in new windowFacebook, wo seine Seite immerhin von mehr als 12.000 Usern mit „Gefällt mir“ geklickt wurde.
Komisch. Offenbar weiß der Parteichef nicht, dass auf das – öffentliche - Melderegister auch jetzt schon jeder zugreifen kann? Wenn man den Namen einer Person weiß und zwei weitere persönliche Daten, z. B. Geburtstag und Geburtsort, dann muss auch nach bisher geltender Rechtslage die Meldebehörde die Anschrift herausgeben. Natürlich gebührenpflichtig, im Bundesdurchschnitt beträgt die Auskunftsgebühr fünf Euro, je nach Kommune zwischen 2,50 und 25 Euro. Wenn jetzt wegen der Gesetzesänderung mehr Adresshändler als früher nachfragen, verdient vor allem der Staat sprunghaft dazu.

Zusatzarbeit für den Bundesrat

„Die SPD wird dieses Gesetz im Bundesrat aufhalten", kündigte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann forsch an. Ohne ausdrückliche Einwilligung dürfe es keine Weitergabe von persönlichen Daten geben. „Die Regierungskoalition ist wieder einmal vor der Adresslobby eingeknickt und hat mit diesem Gesetz den Datenschutz für Wirtschaftsinteressen geopfert“ sekundierte seine Stellvertreterin Gabriele Fograscher schon am 29. Juni in einer Pressemitteilung.
Am 28. Juni hätten auch die SPD-Abgeordneten das Gesetz ablehnen können, wenn sie ihre Arbeit gemacht hätten: Im Plenum anwesend sein und abstimmen. Warum taten sie das nicht? Warum müssen sie jetzt, im Nachhinein, die Medien, die Öffentlichkeit, den Bundesrat mit diesem Thema belästigen?

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte der WELT: "Mal wieder bedient Schwarz-Gelb eine Klientelgruppe und deren Profitinteressen und stellt den allgemeinen Daten- und Verbraucherschutz hinten an." Wer ein solches Gesetz durchgehen lasse, könne nicht ernsthaft – zum Beispiel bei Facebook – auf dem Prinzip der Einwilligung zur Datenweitergabe bestehen, berichtet die WELT.
Fragt sich nur: Auch die Abgeordnete Renate Künast blieb der Abstimmung fern. Vielleicht hatte sie gute Gründe. Doch warum hat sie dann als Fraktionschefin nicht dafür gesorgt, dass genügend grüne Abgeordnete das Gesetz hätten kippen können? Es waren nämlich nur drei (!) von 68 grünen Abgeordneten anwesend!

Fällt niemandem auf, dass auch diejenigen das Gesetz haben „durchgehen“ lassen, die zwar dagegen sind, aber der Abstimmung fern blieben? Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, sagte: "Das Melderechtsgesetz wird den Bundesrat so nicht passieren." Warum hat der Parlamentarische Geschäftsführer seine Fraktion nicht auf die Abstimmung eingeschworen?

Wer nicht widerspricht, stimmt zu

Die Linksfraktion titelt auf ihrer Homepage: „Schwarz-Gelb bläst zur wilden Datenjagd“. Die Rede, die der Abgeordnete Jan Korte im Bundestag zu Protokoll gegeben hat, ist dort im Wortlaut veröffentlicht. Nur: Auch er hat seine Rede nicht gehalten. Denn er war um diese Zeit nicht mehr im Plenarsaal, obwohl er noch eine Stunde vorher dort einen Redebeitrag zu einem anderen Thema gehalten hatte. Auch er hätte die Linken aktivieren können. Wer als Abgeordneter des Bundestages einen Beschluss verhindern will, aber selbst nicht zur Abstimmung geht, kann sich anschließende Empörung sparen.

Gegenüber der taz kritisierte die Linke-Innenexpertin Petra Pau: „Der Ausverkauf des Datenschutzes geht weiter. Und das mit Zustimmung der FDP, die sich selbst als freiheitlich und demokratisch rühmt.“ Faktisch hat nicht nur die FDP zugestimmt. Denn faktisch hat jeder zugestimmt, der hätte NEIN sagen können und dies nicht tat.

Petra Pau ist nicht nur Linken-Innenexpertin, sie ist auch Bundestagsvizepräsidentin. Als solche leitete sie die Abstimmung an diesem Abend des 28. Juni. Wenige Tage zuvor, am 15. Juni 2012, hatte Petra Pau als amtierende Bundestagspräsidentin die 185. Plenarsitzung des Bundestages mangels Beschlussfähigkeit aufgehoben. Eine vorausgegangene Abstimmung durch Handzeichen und deren Wiederholung hatten kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Die Bundestagspräsidentin rief daraufhin zum "Hammelsprung" auf. Einst wurden die Schafe einer Herde gezählt, indem sie einzeln durch ein schmales Tor getrieben wurden. Im Bundestag sind das Türen, durch die Abgeordneten einzeln wieder in den Saal gelassen werden, nachdem sie zu diesem Zählzweck alle den Saal verlassen haben.

Der Hammelsprung

Am 15. Juni lehnten 204 Abgeordnete einen rot-grünen Antrag ab, nur sieben Abgeordnete stimmten zu. Die Opposition blieb der Abstimmung zum eigenen Antrag fast komplett fern. Da laut Geschäftsordnung der Bundestag nur beschlussfähig ist, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist, hätten 311 der 620 Bundestagsabgeordneten an diesem "Hammelsprung" teilnehmen müssen.

Entsprechend § 45 Abs. 3 der Geschäftsordnung musste Petra Pau die Sitzung "sofort" aufheben und erzwang die Verschiebung der in der Tagesordnung bereits angesetzten 1. Lesung des Gesetzentwurfs zum Betreuungsgeld. Wären die fehlenden 126 der insgesamt 330 Abgeordneten von Union und FDP zum Hammelsprung gekommen, wäre das Manöver der Opposition nicht geglückt. Doch die machten alles irgend etwas anderes.

Da erhebt sich nur noch eine Frage: Wieso sah die leitende Präsidentin Petra Pau nicht, dass die laut Geschäftsordnung zur Beschlussfähigkeit nötigen 311 Abgeordneten nicht im Saal saßen, sondern nur knapp 30? Die Antwort gibt die Pressestelle des Bundestages am Telefon: „Es wird grundsätzlich von der Beschlussfähigkeit des Bundestages ausgegangen.“ Der unbefangene Beobachter ist fassungslos: Wozu wählen wir über 600 Bundestagsabgeordnete, wenn zur Beschlussfassung entgegen der Geschäftsordnung auch zwei oder drei anwesende Parlamentarier ausreichen? So wird das schwindende Vertrauen der Bürger in die Politik nicht verbessert.

Schwindendes Vertrauen

Denn dass der Bundestag seine Beschlussfähigkeit überprüfen lässt, ist deshalb äußerst selten. Nur ganze vier Mal seit 1990 kam es dabei zur Feststellung der Beschlussunfähigkeit, obwohl im Internet Dutzende Videos kursieren, die den weitgehend leeren Plenarsaal bei Beratungen und Beschlüssen dokumentiert.

Wer jetzt aus der Opposition das neue Meldegesetz in der Öffentlichkeit geißelt und im Bundesrat im Herbst „unbedingt“ zu Fall bringen will, muss sich zwei Fragen gefallen lassen: Erstens: Warum hat die Opposition nicht am 28. Juni ihre Arbeit gemacht und gegen das Gesetz gestimmt? Es wäre leicht gewesen, das schwach besetzte Regierungslager zu überstimmen. Man hätte nur anwesend sein müssen. Und zweitens: Warum haben die anwesenden Oppositionsvertreter nicht die Beschlussfähigkeit bezweifelt und damit den Hammelsprung erzwungen? Dann wäre das Gesetz zumindest vorläufig auch verhindert worden. Der mediale Aufschrei danach statt im Parlament ist ein Aufstand der Scheinheiligen.

Permanente Überforderung

Der Stenografische Bericht der 187. Sitzung vom 28. Juni 2012 umfasst 332 eng bedruckte Seiten. Von einem einzigen Tag im Parlament! 52 Tagesordnungspunkte und 8 Zusatzpunkte listet die Tagesordnung auf. Reihenweise wurden an diesem Tag Gesetze diskutiert vom Betreuungsgeld über Leiharbeit bis zum Auslandseinsatz der Bundeswehr, dem Arzneimittelgesetz, der Stiftung Datenschutz, dem Austausch von Steuerdaten mit der Regierung von Bermuda, dem Urheberrechtsgesetz, Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme, zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften, zur betrieblichen Mitbestimmung, zuminternationalen Suchdienst, zur Korruption im Gesundheitswesen, zur Einführung eines generellen Schüler-BAföG, zum Recht auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare, zu Finanzierungsbedingungen des Mittelstands, zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz, zur Frage, wie die Imkerei vor der Agro-Gentechnik geschützt werden kann und und und ….
Niemand glaubt ernsthaft, dass in diesem Protokoll abgelegte „Reden“, die nie gehalten wurden, irgendeine Wirkung haben. Niemand glaubt ernsthaft, dass irgendeiner der Abgeordneten fähig ist, alle diese 52+8=60 Tagesordnungspunkte eines Tages verantwortungsbewusst zu überblicken, die ca. 30.000 Seiten Quellen zu den 332 Seiten Protokoll vorab so intensiv zu studieren, dass eine eigenständige, wohlbegründete Meinung entsteht und vertreten werden kann?

Mit der punktuellen Skandalisierung einzelner herausgegriffener Punkte in solchem Abstimmungsmarathon wird es nicht getan sein.

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