Mit wachsender Sorge blickt die Apothekerschaft auf die Entwicklungen des vergangenen Jahres – ein Jahr, das in der öffentlichen Wahrnehmung von wirtschaftlichen Rekorden, in der Realität aber von struktureller Erosion geprägt war. Auf dem Bayerischen Apothekertag 2025 wurde deutlich, wie dramatisch sich dieser Gegensatz auf die Versorgungslage auswirkt: Während Apothekenbetriebe bei Umsätzen und Betriebsergebnissen leichte Erholungen verzeichnen, liegt die Schließungsrate so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Besonders Bayern steht exemplarisch für eine Schieflage, die sich bundesweit abzeichnet. Der Rückgang von 88 Apotheken innerhalb eines Jahres markiert einen neuen Tiefpunkt – auch weil sich die Politik erneut als unzuverlässiger Partner erweist.
Die im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD vereinbarte Anhebung des Fixhonorars auf 9,50 Euro ist ein zentrales Versprechen der Bundesregierung – doch zwischen Bundesgesundheits- und Bundeswirtschaftsministerium herrscht Stillstand. Unklar bleibt, welches Ressort die Verantwortung für die AMPreisV trägt. Für viele Apotheken bedeutet das: Weiter wirtschaften auf Basis eines veralteten Honorars, das steigenden Betriebskosten nicht mehr gerecht wird. Hinzu kommen neue Belastungen durch Digitalisierungsvorgaben, Retaxrisiken und Cyberbedrohungen, die ohne flankierende Maßnahmen aus Berlin auf die Betriebe abgewälzt werden.
In Regensburg wurde auch sichtbar, wie diese Entwicklungen in den Kommunen ankommen. Bürgermeister kleiner und mittlerer Gemeinden schilderten den Verlust ihrer letzten Apotheke als sozialen und wirtschaftlichen Einschnitt – ohne Unterstützung durch staatliche Strukturen. Der politische Vertrauensverlust ist tief, die Hilflosigkeit groß. Gleichzeitig suchen Apotheker nach Auswegen: In Nordrhein etwa wird die Selbstmedikation gezielt gefördert, mit digitalen Tools, Rabattmodellen und Beratungsoffensiven. Die Hoffnung: Einnahmequellen erschließen, Kundenbindung stärken, therapeutischen Mehrwert sichtbar machen.
Doch während die deutschen Apotheken um lokale Stabilität ringen, entzieht sich Europa seiner industriepolitischen Verantwortung. Mit der Ankündigung von Xellia Pharmaceuticals, die Antibiotikaproduktion aus Kopenhagen nach China zu verlagern, verliert der Kontinent seinen letzten Vollhersteller zentraler antimikrobieller Wirkstoffe – trotz politischer Beteuerungen, die Lieferketten zu stärken. Eine fatale Entwicklung, die zeigt, wie weit Anspruch und Realität auseinanderklaffen.
Anders in der Forschung: Neue pharmakogenetische Erkenntnisse belegen, dass genetisch bedingte Nebenwirkungen vermeidbar wären – sofern entsprechende Tests Teil der Regelversorgung wären. Auch die Migränebehandlung macht Fortschritte: Der CGRP-Antagonist Ubrogepant lindert bereits in der Frühphase Symptome und könnte einen Paradigmenwechsel in der Therapie einleiten.
Was bleibt, ist ein politisches Versprechen, das erneut auf Bewährung steht. Und eine Branche, die längst begonnen hat, sich gegen die eigene Entwertung zu wehren.
Kommentar:
Die Widersprüchlichkeit zwischen den wirtschaftlichen Kennzahlen deutscher Apotheken und ihrer realen Versorgungssituation markiert eine gefährliche Illusion politischer Selbstentlastung. Wer sich auf Umsatzkurven beruft, um den Reformdruck zu relativieren, verkennt die Tiefe der Krise. Der Rückzug aus der Fläche, sichtbar am Beispiel Bayerns, ist kein statistischer Betriebsunfall, sondern Ausdruck einer systemischen Fehlsteuerung. Das Versprechen eines neuen Fixhonorars war ein Schritt zur Anerkennung dieser Realität – dass es nun in Zuständigkeitsdebatten versandet, steht exemplarisch für eine politische Praxis, die das Vertrauen der Betroffenen verspielt.
Hinzu tritt eine zunehmende Belastung durch digitale Pflichten ohne Schutzinfrastruktur. Die Apothekenreform setzt auf Daten und Prozesse, lässt aber bei Haftung, Cyberabwehr und Schulung konsequent jede Unterstützung vermissen. Dass einzelne Apotheken dennoch in kreative Lösungen investieren, wie das Beispiel der nordrheinischen Selbstmedikationskampagne zeigt, belegt die Widerstandskraft einer Branche, die von der Politik im Stich gelassen wurde.
Doch es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Der Verlust der letzten Apotheke vor Ort hat nicht nur therapeutische, sondern auch soziale Folgen. Der Apothekenraum ist Teil kommunaler Infrastruktur – sein Verschwinden ist ein Warnsignal. Gleichzeitig zeigt der internationale Vergleich, wie gefährlich die Entkopplung zwischen politischer Rhetorik und industrieller Realität ist: Der Rückzug von Xellia ist kein Einzelfall, sondern Folge unterlassener Industriepolitik.
Dass es Hoffnung gibt, ist der Forschung zu verdanken – nicht der Politik. Präventive Genanalysen und die Migränetherapie mit Ubrogepant zeigen, was möglich wäre, wenn Erkenntnisse systematisch umgesetzt würden. Doch der Fortschritt bleibt in seiner Wirkung begrenzt, solange das Gesundheitssystem an strukturellen Schwächen leidet. Die Zeit für Symbolpolitik ist vorbei. Jetzt braucht es strukturellen Realismus – und den politischen Mut, Verantwortung nicht nur anzukündigen, sondern auch zu übernehmen.
Von Engin Günder, Fachjournalist