Die Rückkehr der Kapitalgesellschaft ins Apothekenrecht ist kein Zufall, sondern Ergebnis gezielter strategischer Positionierung. Was unter der Oberfläche als Entlastung junger Apothekerinnen und Apotheker inszeniert wird, ist in Wirklichkeit ein massiver Angriff auf das institutionalisierte Fremdbesitzverbot – und damit auf das Fundament einer patientenzentrierten, unabhängigen Arzneimittelversorgung. Mit dem Wechsel des ehemaligen ABDA-Kommunikationschefs Rainer Kern ins Lager des DocMorris-Konzerns erhält die Debatte einen neuen Spin: Öffentlichkeitswirksam wird nun das Bild einer angeblich verantwortungsscheuen Generation gezeichnet, die „lieber anstellt als selbst führt“. In Wahrheit jedoch geht es um eine juristische Hebelwirkung zugunsten investorengetriebener Versorgungsmodelle, die unter der Tarnkappe „GmbH“ das Apothekenwesen in ein renditeorientiertes Versorgungssurrogat transformieren wollen. Wer heute von „Apotheken-GmbHs“ spricht, meint morgen Plattformbesitz, Marktverdrängung und die schleichende Zerschlagung inhabergeführter Strukturen.
Diese Entwicklung trifft auf eine ohnehin gefährdete ökonomische Basis. Dass eine Apotheke heute mindestens 2,5 Millionen Euro Jahresumsatz erzielen muss, um betriebswirtschaftlich stabil zu operieren, ist keine spekulative Mutmaßung, sondern analytisch belegte Realität. Thomas Müller-Bohn hat in seiner aktuellen DAZ-Auswertung die Schwelle empirisch nachgezeichnet – mit klaren Implikationen: Apotheken, die darunter liegen, geraten nicht nur in wirtschaftliche Schieflage, sondern verlieren auch zunehmend Anschluss an Investitionszyklen, Digitalisierung und Personalbindung. Damit aber entstehen Kettenreaktionen: Sinkende Attraktivität bei Mitarbeitenden, geringere Versorgungskapazitäten in ländlichen Räumen, strukturelle Abhängigkeiten von Lieferengpässen. Ohne gezielte Skalierung – organisatorisch wie strukturell – ist eine mittel- bis langfristige Sicherung wohnortnaher Versorgung nicht möglich. Doch diese Skalierung muss von innen kommen, nicht von außen: Sie braucht berufsständische Netzwerke, nicht Shareholder-Strategien.
Politisch jedoch bewegt sich wenig. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken führt das Apothekenreformprojekt zwar in ihrer strategischen Vorhabenliste – jedoch ohne Zeitmarke, ohne Planungssicherheit, ohne erkennbare Richtung. Im Schatten der GKV-Finanzrettung bleibt die Apothekenzukunft vorerst eine Variable unter Vorbehalt. Auch die Ansätze zur Entbürokratisierung, die das Ministerium vorschlägt, wirken defensiv statt gestalterisch. Dass die Länder auf der GMK im Juni nun Druck machen und den Bund auffordern, die im Koalitionsvertrag verankerte Reform mit Dynamisierung, Präventionsausbau und Honorarangleichung endlich umzusetzen, zeigt, wie ernst die Lage ist – und wie gefährlich das politische Zögern werden kann. Ohne klare Weichenstellung droht nicht nur Stillstand, sondern ein Dominoeffekt aus Schließungen, Rückzug aus Randregionen und wachsender Instabilität im Arzneimittelsystem.
Im Zentrum der systemischen Relevanz stehen dabei immer wieder auch konkrete Leistungen: Die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL), deren betriebswirtschaftlicher wie gesundheitspolitischer Hebel längst erkannt ist, entfalten ihr Potenzial bislang nur fragmentarisch. Auch deshalb, weil Investitionssicherheit, Personalbindung und Versorgungskoordination fehlen. Wer die Apotheken stärken will, muss pDL strukturell verankern – und zwar nicht als Projektförderung, sondern als feste zweite Säule neben der Rezepturvergütung. Denn die Zukunft der Apotheken liegt nicht allein im Rezept, sondern in der kontinuierlichen Betreuung, dem Medikationsmanagement, der Präventionsberatung. Doch ohne Honorarstabilität, ohne verlässliche rechtliche Absicherung, ohne politische Priorität bleibt dieser Weg blockiert.
In diese Gesamtlage platzt nun auch der SPD-Bundesparteitag mit gesundheitspolitischer Ambition. Der Antrag zur Mehrwertsteuerreduktion auf Arzneimittel – möglicherweise bis hin zur Nullbesteuerung – ist mehr als ein fiskalisches Detail. Er ist ein strategischer Angriff auf die finanzielle Belastung der Solidargemeinschaft und ein direktes Signal an Verbraucher und Apotheken gleichermaßen: Arzneimittel sind keine Luxusgüter, sondern Versorgungsnotwendigkeiten. Gleichzeitig geht es um mehr: Die SPD diskutiert auf struktureller Ebene, wie wohnortnahe Versorgung dauerhaft gesichert, digitale Versorgungsplattformen reguliert und Apotheken als resiliente Netzakteure gestärkt werden können. Gelingt es, diese Themen nicht nur auf Antragsebene zu behandeln, sondern in die Regierungslogik zu übertragen, könnte die Partei zum gesundheitspolitischen Taktgeber einer dringend notwendigen Reformdynamik werden.
Parallel dazu wirft die therapeutische Realität ihre eigenen Fragen auf. Die neuen GLP-1-Rezeptoragonisten wie Semaglutid und Tirzepatid zeigen zwar beeindruckende Wirkungen – doch Real-World-Daten offenbaren: Der langfristige Nutzen hängt entscheidend von Therapietreue und Versorgungskontinuität ab. Apotheken könnten hier eine stabilisierende Rolle übernehmen – als Coachs, Erinnerungsinstanz, koordinierende Fachstelle. Doch diese Rolle verlangt nicht nur Zeit, sondern strukturelle Absicherung. Ein System, das pharmazeutische Leistungen retaxiert, weil formale Vorgaben wichtiger scheinen als dokumentierte Unverträglichkeiten oder Therapienotwendigkeit, delegitimiert nicht nur Fachkompetenz, sondern gefährdet aktiv die Patientenversorgung.
Derweil verändert sich auch das technische Fundament der Versorgung: Geodatenbasierte Steuerungssysteme führen zu einer effizienteren Allokation von Nacht- und Notdiensten, wie die Auswertung des NNF für das erste Quartal 2025 zeigt. 556,22 Euro je Vollnotdienst – ein Rekordwert, der verdeutlicht, wie durch digitale Optimierung auch ohne Mehrbelastung betriebswirtschaftliche Fortschritte erzielt werden können. Doch auch hier bleibt der Systemeffekt fragil: Weniger Notdienste bei höherem Honorar lösen nicht das strukturelle Problem wachsender Belastung in unterversorgten Räumen.
Und schließlich zwingt auch die Umweltpolitik zum Umdenken: Die neue EU-F-Gas-Verordnung bedroht ausgerechnet die Akutversorgung bei Asthma und COPD – also Patientengruppen, die auf sofortige Verfügbarkeit und einfache Anwendung inhalativer Arzneimittel angewiesen sind. Die Entscheidung von Sandoz, aus der Produktion von Salbutamol-Sprays auszusteigen, offenbart eine regulatorische Zielkollision: Klimaschutz und Versorgungssicherheit prallen aufeinander. Die Folge sind Versorgungsengpässe, die weder durch Generika noch durch Off-Label-Strategien ausgeglichen werden können. Die Frage, wie medizinische Versorgung und ökologische Transformation koordiniert werden können, wird zur systemischen Grundsatzfrage.
Gleichzeitig wächst der Druck auf das professionelle Urteilsvermögen der Apotheken. Wenn pharmazeutische Bedenken – etwa bei Lieferengpässen, Kontraindikationen oder Formulierungskonflikten – nicht als Verantwortung, sondern als Fehler klassifiziert werden, erzeugt das einen fundamentalen Vertrauensbruch. Retaxationen auf Basis dokumentierter Abweichungen, die nach ApBetrO zulässig sind, untergraben nicht nur die Legitimität pharmazeutischer Entscheidung, sondern entmutigen Fachkräfte, Verantwortung zu übernehmen. Das System produziert so seine eigene Unsicherheit – zwischen medizinischer Realität und abrechnungsrechtlichem Dogma.
Auf therapeutischer Ebene zeigen Studien zu Fremanezumab oder Frexalimab, dass die Zukunft nicht in der Breite, sondern in der Differenzierung liegt. Migräne- und MS-Patienten profitieren messbar von innovativen Antikörpertherapien – vorausgesetzt, die Versorgungskette bleibt stabil, die Beratung qualifiziert und die Therapieziele nachvollziehbar dokumentiert. Auch hier können Apotheken Verantwortung übernehmen – wenn sie dürfen, können, sollen. Doch dafür braucht es nicht mehr GmbHs. Sondern mehr Vertrauen. Und mehr politisches Rückgrat.
Von Engin Günder, Fachjournalist