Der Anteil hochpreisiger Arzneimittel im deutschen Markt steigt kontinuierlich – mit weitreichenden Folgen für Apotheken und Krankenkassen. Während Pharmaunternehmen gezielt auf Blockbuster setzen, die Milliardenumsätze versprechen, geraten Apotheken zunehmend in wirtschaftliche Schieflagen. Retaxationsrisiken, unkalkulierbare Ausfälle und die Vorfinanzierung hochpreisiger Therapien stellen für viele Betriebe eine erhebliche Belastung dar. Der vermeintlich lukrative Markt bleibt für zahlreiche Apotheken unattraktiv, weil selbst kleine formale Fehler zu finanziellen Einbußen führen können.
Auch gesetzliche Krankenkassen stoßen angesichts der Preisentwicklung an ihre Grenzen. Die erzielten Einsparungen durch Rabattverträge im Generikamarkt reichen kaum noch aus, um die steigenden Ausgaben im Hochpreissegment auszugleichen. Zwar werden Erstattungsbeträge im Rahmen der frühen Nutzenbewertung verhandelt, doch ist deren Spielraum begrenzt. Als Referenz dient zumeist eine ebenfalls teure Vergleichstherapie – mit dem Effekt, dass das Preisniveau stabil hoch bleibt. Nach Einschätzung von Experten wird die Preisstrategie vieler Hersteller bewusst an der oberen Grenze kalkuliert. „Man nimmt, was man kriegen kann“, heißt es hinter vorgehaltener Hand.
Deutschland spielt dabei eine Schlüsselrolle: Als europäischer Leitmarkt hat das Land eine Signalwirkung für andere Gesundheitssysteme. Hersteller haben daher ein hohes Interesse daran, Preise hierzulande zu halten. Der Vorschlag, Erstattungsverhandlungen künftig auf europäischer Ebene zu führen, findet unter Krankenkassenvertretern zunehmend Zustimmung. Während der Anteil Deutschlands am globalen Arzneimittelmarkt bei rund vier Prozent liegt, vereint die EU etwa ein Viertel – ein deutlich stärkeres Gewicht gegenüber der Industrie. Allerdings bleibt unklar, ob eine zentrale Preisverhandlung in Brüssel den Zugang zu Innovationen verzögern könnte.
Aufseiten der Apotheken herrscht Unzufriedenheit mit der Struktur der Zusammenarbeit mit den Krankenkassen. Inhaberinnen und Inhaber beklagen insbesondere den Rückgriff auf veraltete Kommunikationswege wie Fax und Briefpost, die Prozesse erschweren und Fehlerquellen begünstigen. Zwar zeigen sich einzelne Kassen bei der Retaxation zurückhaltend – so etwa die AOK Baden-Württemberg, die bei 29 Millionen Verordnungen im Jahr 2024 nur 0,4 Prozent retaxierte –, dennoch bleibt das Risiko in der Praxis für Apotheken real und spürbar.
Gleichzeitig gibt es Stimmen, die Apotheken eine aktivere Rolle in der Kostendämpfung zutrauen. Eine enge Begleitung von Patienten mit Hochpreis-Therapien könnte dazu beitragen, Fehlverordnungen zu vermeiden, Dosierungen zu optimieren oder ergänzende Präparate zu reduzieren. Erste Fallbeispiele zeigen, dass dadurch in Einzelfällen tatsächlich relevante Einsparungen erzielt werden können. Diskutiert wird deshalb die Einführung neuer pharmazeutischer Dienstleistungen, die speziell auf Hochpreiser-Patienten ausgerichtet sind. Der Gedanke: Durch strukturierte Beratung könnten Therapieprozesse wirtschaftlicher gestaltet werden – zum Nutzen aller Beteiligten.
Allerdings äußern Kassenvertreter Zweifel an der Hebelwirkung solcher Maßnahmen. Solange zentrale Therapieentscheidungen beim Arzt liegen und apothekerliche Impulse formal keinen Einfluss auf die Medikation haben, bleiben die Spielräume begrenzt. Die strukturelle Trennung zwischen ärztlicher und pharmazeutischer Verantwortung wird zunehmend als Hindernis empfunden – nicht zuletzt, weil sie Innovationen im Versorgungsprozess ausbremst. Künftig könnten digitale Lösungen wie die elektronische Patientenakte neue Schnittstellen schaffen, um Medikationsdaten besser auszuwerten und Beratung gezielter zu gestalten. Der Einsatz von KI-Systemen, Erinnerungsfunktionen oder automatisierten Interaktionswarnungen könnte hier neue Wege eröffnen.
Dennoch bleibt die persönliche Beratung für viele Patientinnen und Patienten ein zentraler Faktor. Apotheken, die etwa Menschen mit HIV oder schwerwiegenden chronischen Erkrankungen versorgen, berichten von intensiven, oft langjährigen Beziehungen. Viele Patientinnen und Patienten kommen gezielt in bestimmte Apotheken zurück – nicht nur zur Abholung, sondern wegen des Vertrauens zu einzelnen Mitarbeitenden. In dieser emotionalen Nähe liegt ein Potenzial, das über technische Systeme hinausreicht.
Eine Rationierung hochpreisiger Medikamente schließen sowohl Krankenkassen als auch Apotheken entschieden aus. Stattdessen setzen sie auf Prävention, Lebensstilveränderung und langfristige Reformstrategien. Perspektivisch könnte sich das Problem durch medizinischen Fortschritt abschwächen. Mit zunehmender Bedeutung kurativer Therapien und verbesserter Früherkennung könnten klassische Langzeitmedikationen künftig an Bedeutung verlieren. Der Arzneimittelmarkt steht vor einem strukturellen Wandel, der nicht nur medizinisch, sondern auch ökonomisch neue Realitäten schaffen wird.
Kommentar:
Die Debatte um Hochpreiser im Arzneimittelmarkt offenbart ein grundlegendes Spannungsfeld zwischen medizinischem Fortschritt und systemischer Finanzierbarkeit. Einerseits ermöglichen diese Präparate vielen Patienten ein längeres, besseres Leben – andererseits überfordern sie zunehmend die Strukturen, die für ihre Verteilung und Vergütung zuständig sind. Dass Apotheken nicht einfach in den vermeintlich goldenen Markt der Hochpreistherapien einsteigen, sondern teils bewusst Abstand nehmen, ist ein Ausdruck wachsender Unsicherheit.
Dabei geht es nicht um eine Verweigerung medizinischer Innovation, sondern um das Management von Verantwortung, Risiko und Bürokratie. Wenn eine Retaxation in fünfstelliger Höhe droht, weil eine Signatur fehlt oder eine formale Angabe nicht exakt platziert wurde, verliert das Versorgungssystem seine Augenhöhe. Die Lösung kann nicht in zusätzlicher Kontrolle oder Verlagerung von Risiken liegen, sondern in systemischer Entlastung und technologischer Erneuerung. Digitalisierung, zentralisierte Kommunikation und faire Lastenverteilung sind essenziell, um Hochpreiser in den Versorgungsalltag zu integrieren.
Gleichzeitig braucht es mehr Mut, Apotheken strukturell in die Therapiebegleitung einzubinden. Wer täglich an der Schnittstelle zu Patienten arbeitet, kann nicht dauerhaft nur als Ausführender betrachtet werden. Beratungsqualität ist keine beiläufige Zusatzleistung, sondern Teil eines modernen Gesundheitsmanagements. Es wäre ein Fehler, dieses Potenzial zu unterschätzen. Denn die große Herausforderung der nächsten Jahre wird nicht die Verfügbarkeit von Medikamenten sein – sondern deren intelligente, effiziente und nachhaltige Nutzung.
Von Engin Günder, Fachjournalist